Naya war eine junge Frau, die in einem Dorf lebte, das von Kontrolle und scheinbarer Sicherheit geprägt war. Jeder Dorfbewohner hatte eine festgelegte Rolle, der er folgen musste.
Die Männer reparierten Dächer, die Frauen kochten und nähten, die Jungen lernten das Handwerk, und die Mädchen halfen im Haushalt. Ordnung war Sicherheit, Pflicht war Geborgenheit.
Doch Naya spürte diese Sicherheit nicht. Wenn sie in der Küche stand und Brot knetete, fühlten sich ihre Hände wie gefesselt an. Wenn sie Körbe trug, lasteten sie schwerer auf ihrer Seele als auf ihren Schultern. Ihre Tage waren gefüllt mit mühsamen Pflichten, die ihr Herz aushöhlten. Der Rauch der Feuerstellen kratzte in ihrer Kehle, die Mauern der Hütten drückten auf ihre Brust.
Naya war eine Kreative. Sie versuchte, ihre Ideen in die Arbeiten einzubringen – den Broten eine andere Form zu geben, etwas Farbe mit Beeren beizumischen. Doch ihre Vorschläge wurden von einem strengen „Wir machen das schon immer so und so wird es gemacht“ erstickt.
Wann immer ihre Arbeit getan war, schlich sie sich in den Wald. Sie legte sich ins Moos und atmete aus: „Hier fühle ich mich sicher.“ Sie sammelte Steine und formte daraus wunderschöne Kreisformationen.
Eines Tages, tief im Wald, als die Dunkelheit schon fast anbrach, wollte Naya einen begonnenen Steinkreis fertigstellen. Sie vergass dabei komplett die Zeit und die Sterne am Himmel begannen zu funkeln. Der Rauch des Abendmahls im Dorf stieg empor, und Naya wusste, schweren Herzens, dass sie zurück musste.
Als sie sich nach Hause schlich, wartete die Dorfwächterin an der Eingangstür. „Der Wald ist wild und gefährlich,“ sagte sie streng. „Du wirst dich verirren oder verletzt werden. Warum suchst du das Unbekannte? Hier im Dorf ist alles, was du brauchst. Bleib hier, wo es sicher ist.“
Naya tat seit Jahren, was von ihr erwartet wurde. Doch jedes Mal, wenn sie den Wald verließ, spürte sie, wie ein schimmerndes Stück ihrer Seele im Moos zurückblieb.
Schon als Kind hatten die Ältesten in ihr etwas Unruhiges gesehen. „Du bist zu eigenwillig, Naya. Wer nicht folgt, bringt Chaos.“ Ihre Eltern und Freunde sorgten sich: „Warum musst du immer Neues anfangen und alles anders machen?“
Doch Nayas Herz war ein Kompass, der stetig nach vorne zeigte, nicht zurück. Sie wollte keine ausgetretenen Pfade gehen; sie wollte ihre eigenen Wege bahnen, Neues erschaffen. Im Dorf erstickte dieser Drang. Ihre Hände wurden schwer, ihre Augen leer.
Der Schmerz des Entrissenseins
Der einzige Ort, der ihre Energie ehrte, war der Wald. Dort konnte Naya die Welt neu beginnen, ohne dass sie jemand korrigierte und aufzuhalten versuchte.
Sie baute kleine Feuerstellen, zeichnete Muster mit Steinen und sang Lieder, die noch nie erklungen waren. Im Wald spürte sie:
„Ich bin nicht falsch. Ich bin eine Initiatorin. Ich bringe Neues in die Welt.“
Das Dorf, das sah ihre Gabe nicht. Jedes Mal, wenn sie etwas Neues begann, wurde sie zurückgerufen.
„Das hilft uns nicht,“ sagten sie. „Wir brauchen dich hier, bei dem, was verrichtet werden muss.“
Eines Tages, als Naya im Wald ein besonders einzigartiges Muster aus Steinen legte, spürte sie eine Kraft in sich aufsteigen. Ihre Hände bewegten sich mit Leichtigkeit, ihr Herz schlug im Rhythmus ihrer Schöpfung. Es war, als ob der Wald selbst mit ihr atmete, ihr erlaubte, ihre Wahrheit zu leben und vollkommen darin aufzugehen.
Doch plötzlich durchbrachen Rufe ihre kreative Schöpfung. Schritte stampften durch das Laub. Harte Hände packten ihre Arme.
„Was tust du hier? Du kannst nicht immer weglaufen!“ riefen sie.
Sie zerrten sie hoch, ihre Finger lösten sich von den Steinen. Die kunstvollen Muster fielen auseinander, wie ein zerbrochener Traum. Ein Tritt zerstörte ihr kleines Feuer. Rauch stieg auf, und die Flamme erlosch.
„Komm zurück ins Dorf! Hör auf mit diesem Unsinn, du Wilde!“
In diesem Moment brach etwas in ihr. Ihre Kreativität, ihre Freiheit – zertreten, in den Staub gedrückt. Der Schmerz schnürte ihre Brust zu, Tränen brannten in ihren Augen. Der Wald wurde kleiner, ferner, bis er nur noch ein leises Flüstern war.
Der Rückweg war ein grauer Tunnel. Jeder Schritt entfernte sie weiter von sich selbst. Die Mauern des Dorfes schlossen sich wie ein kalter Käfig um sie.
Die Entscheidung der Wilden
Wieder versuchte Naya ihren Platz im Dorf zu finden. Diesmal fand sie kreative Arbeit und knüpfte Stoffe in der Weberei, formte Worte in der Schreibstube.
„Siehst du, geht doch, ich freu mich für dich“, sprach die Schreibmeisterin strahlend. „Du musst nicht immer ausbrechen um dein Glück zu finden“, trug ihre Weberfreundin bei.
Anfangs schien es ja zu passen, und die glücklichen Gesichter ihrer Familie und Freunde schenkten ihr Zuversicht, doch schon sehr bald wurden die Fäden, die Naya sponn zu Netzen, die sie fesselten. Die Worte, die sie schrieb zu leblosen Zeichen.
„Warum kann ich nicht einfach zufrieden sein?“, fragte Naya und guckte dabei aus dem Fenster zum Wald. „Hier bin ich sicher und werde versorgt.“
Und ihre Seele antwortete: „Du bist nicht gemacht, um dich anzupassen. Du bist gemacht, um neues zu gestalten und alte Pfade zu durchbrechen.“
Ein Funke stieg in ihr auf und Nayas innere Wahrheit sprach:
„Ich bin eine Initiatorin. Ich kann nicht folgen. Ich kann nur meinen eigenen Weg erschaffen.“
Sie legte ihre Hand auf ihr Herz und sagte laut:
„Ich wähle mich. Ich wähle mein Feuer.“
Diesmal rannte sie. Sie bahnte sich ihren eigenen Pfad durch das Unterholz. Der Wald schloss sich hinter ihr, und vor ihr öffnete er sich – neu und unberührt.
Naya atmete tief ein. Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich vertraut an, die Luft füllte ihre Lungen mit Klarheit. Sie wusste nicht, was jenseits der nächsten Lichtung lag oder wohin ihr Pfad führen würde. Doch zum ersten Mal war das Unbekannte kein Feind, sondern ein Versprechen.
Und während sie weiterlief, stieg ein Lächeln in ihr auf. Vielleicht gab es irgendwo da draußen einen Ort, wo ihre Flamme leuchten durfte. Vielleicht gab es Menschen, die das Wilde in ihr verstanden.
Vielleicht – nur vielleicht – hatte ihr Weg gerade erst begonnen und Naya war bereit, es herauszufinden.
(c) Fabienne Hofmann 2. Advent 24
Diese Geschichte spiegelt meinen Manifestor-Schmerz, den wohl nur Manifestoren und wilde Seelen wirklich verstehen. In der Geschichte verarbeite ich Gefühle, die besonders dieses Jahr sehr schwer waren (und teilweise noch sind).
So wie Naya, weiss auch ich nicht wie es weitergeht und doch vertraue ich weiterhin und immerwährend meinem Herzkompass und weiss, dass ich meine innere Freiheit leben und kreativ ausdrücken werde, ganz. Nicht teilweise angepasst, nicht hin und wieder schematisch, sondern so wie es meine Seele will. Frei und fliessend, immer.
Erkennst auch du dich in der Geschichte wieder?
Ich freue mich über deine Gedanken und Gefühle dazu.
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Helga Larcher (Sonntag, 08 Dezember 2024 20:59)
Das ist ein wunderschön berührendes Märchen. Und Märchen enden immer in einem Happy End.
Claudia Vehapi (Montag, 09 Dezember 2024 10:00)
Liebe Fabienne
Deine Geschichte hat mich sehr inspiriert und nochmals bestärkt. Wir sind nicht allein. Ich kann deinen Manifestoren-Schmerz zu gut verstehen. Mir ging es fast das ganze Leben so und ich wusste lange nicht, warum. Vor ein paar Jahren ging ich auf meinen Weg, öffnete mich für unbekannte neue Welten und schuf Verbindungen mit Gleichgesinnten. Ich fühlte mich sofort aufgenommen und „erkannt“. Etwas besseres konnte mir nicht passieren und ich weiss nicht, wo ich jetzt sonst stehen würde. Für mich geht es auch darum, daraus ein „frei für immer“ zu machen, nicht teilweise, sondern GANZ. Nur so können wir voll und ungehindert unsere Kraft entfalten und wirken.
Ich bin offen, falls du dich in einem Gespräch mit mir verbinden möchtest �.
Ganz herzliche Grüsse und dir alles Liebe, Claudia